Da verpasst man sich durch wochenlanges Andenpassgeradel die Form seines Lebens, übt sich in Pragmatismus und Flexibilität ob des Mangels an Dingen, die man gerade zu brauchen glaubt (zum Beispiel: funktionierendes Velo, windgeschützter Schlafplatz, Wasser, asphaltierte Straße, Rückenwind, Kraft, NE COLA! …), nur um Gefahr zu laufen, diese Skills beim Beradeln von Argentinien auf schnellstem Wege wieder zu verlieren? Challenge also vorbei? MITNICHTEN! Das Beständigste ist eben immer noch die Unbeständigkeit – und die hat es hier durchaus in sich …
Aufwärmphase vor den Challenges:
Argentinien erwartete uns spätestens im Dunstkreis von Salta (eigentlich aber schon seit San Antonio) mit herrlichem Sommerwetter und dem Gefühl, eine wahre Entspannungsoase nach den anspruchsvollen und fordernden Etappen der letzten Wochen und Monate erreicht zu haben. Natürlich überlegen wir dann auch nicht wirklich lange und hängen ganz spontan noch einen Tag länger in Salta herum/ab – das Regenwetter (fast vergessen, gleich wiedererkannt) erleichtert uns diesen Schritt zudem. In Salta kann man es aushalten.
Wie sehen solche Ruhetage in der Regel aus? – Das Zimmer wird nur im äußersten Notfall verlassen, und zwar dann, wenn sich die Kaffee- und Essensvorräte einem dramatischen Ende zuneigen, das Frühstück serviert wird, die Kohle für die nächste Nacht bezahlt werden muss oder der Lagerkoller droht! Mit dem Rad wird nur dann interagiert, wenn es dringend erforderlich ist, und dann auch tatsächlich erst auf den letzten Drücker! Wäsche waschen? – erst fühlen, dann riechen, dann entscheiden :-)! Merinowolle ist durchaus ruhetagskompatibel.
Irgendwann wird man dessen aber überdrüssig und entwickelt wieder das Bedürfnis, radeln zu müssen…. ABER: GAAAAAAAAAAAAAAAAAAANZ GEMÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜTLICH!!! Gegen elf Uhr sitzen wir dann auf den Drahteseln und begeben uns nach einem ausladenden Frühstück kombiniert mit vier Pötten schmackhaftesten Kaffees nach Wochen mit der Instantbrühe gemächlich aus der Stadt. Argentinien – Wir kommen!
Nach 1,5 Stunden auf der Ruta 68 haben wir schon mehr als 20 km (unfassbar, dass das noch möglich ist 🙂 ) abgespult, ohne nur das kleinste Anzeichen von Belastung zu spüren. Dennoch nehmen wir dankend das „Angebot“ einer Gemeinde an, die einen gemütlichen Rastplatz an den Straßenrand gezimmert hat, der sogar über fließend Wasser verfügt! – Coffeetime!!! – We love this country!
Die jeweiligen Distanzen der nächsten Tage bis Cafayete bleiben strikt unter 100 km – schließlich Sommerurlaub, gelle? Und außerdem sehen wir uns mit dem Umstand konfrontiert, dass wir die Weihnachtsfeierlichkeiten zusammen mit Teilen der Cusco-Connection in Mendoza begehen wollen, die verbleibenden Tage bis dahin aber mindestens doppelt reichen, um da anzukommen. Entschleunigung in der gewöhnlich beschleunigten Vorweihnachtszeit – in der Ruhe liegt die Kraft. (Sehr angenehm in dieser Gegend: das ganze Vorweihnachtsgedöhns, was ja meist schon „kurz nach Ostern“ in den Supermärkten Deutschlands und Europas einsetzt, findet man hier nirgends!)
Die Ruta 68 bis Cafayete ist ein Schmuckstück – wir beradelten hier seit Alemania (wo wir am Bahnhof vergebens darauf warten, dass uns Freunde und Familie abholen und gezwungen sind, in Argentinien weiterzuradeln 🙂 )
einen pittoresken Canyon, der in seinem Verlauf flussaufwärts immer imposanter wird. Das Zusammenspiel karge Berghänge und Böden mit dem Grün der Pflanzen an der Lebensader „Fluss“ ist grandios anzusehen. Auch der Gegenwind und die hohen Temperaturen von über 26 Grad tun diesem Vergnügen keinen Abbruch.
Ankunft in der von Weingütern umgebenen Stadt Cafayete: „Gemütlich hier, oder?“, konstatieren die Muttons beim Schlemmen des leckeren Helados im Schatten eines Sonnenschirms am Rande der Plaza! „Hier könnten wir eigentlich einen Tag verweilen, oder?“ – „CLARO!!!“ 🙂 (Eine unfassbare Entwicklung, die sich hier anbahnt – Ruhetag nach drei gemütlichen Fahrtagen … sind wir hier im Urlaub, oder was?!?! Das schlechte Gewissen ist uns in diesem Zusammenhang irgendwie abhanden gekommen – wenn das mal gut geht:-)! )
Wo der Wein deutlich günstiger als Bier ist und die Empanadas frisch und verträglich in die Muttonmägen wandern, kann man schon mal bleiben. Strahlend blauer Himmel und ein gemütliches Hostel tun ihr Übriges.
So! Genug des Aufwärmens… Bereit für die Challenges? LOS GEHT ES!
Challenge eins: mutton’sche Internetaffinität trifft auf desolate Internetinfrastruktur
Was hört man nicht alles: „Überall in Argentinien gibt es offene WLAN-Netze!“, „gut entwickelt und flächedeckend ausgebautes Netz“ usw. All die meinigen Hoffnungen bezüglich dieses antizipierten Daten-Eldorados zerfließen allerdings so schnell, wie das leckere Speiseeis in der argentinischen Sommersonne! Rein formal gibt es tatsächlich vielerorts freie WIFI-Zonen auf öffentlichen Plätzen, nur kann man mit denen faktisch meist rein gar nichts anfangen… Hier geht es nicht um die Nutzung von Streaming-Diensten, sondern beispielsweise um die Recherche über gute und günstige Hostals oder den Wetterbericht… Schwierig bis unmöglich! Und alle Hostals warten mit WIFI-Ausstattung auf, die allerdings meist das gleiche Merkmal aufweisen und somit den Namen nicht wert ist! Ganze Städte sind mitunter für längere Zeit lahmgelegt! Das haben wir so tatsächlich nicht erwartet und werden den Eindruck nicht los, dass die Internetversorgung in Peru und Bolivien deutlich besser ist … (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel!) (Der Internetentzug wird für den Mister noch dramatischer, wenn es aufgrund der Sonneneinstrahlung auf das sich am Lenker befindende Smartphone mal wieder die offline-Bibliothek des Musikportals zerschossen hat – MERDE!)
Challenge zwei: Geld abheben in Argentinien
Alter Schwede! Wie ist es eigentlich um ein Land bestellt, in dem es Tage gibt, an denen alle Geldautomaten der Stadt leergeräumt sind und es unmöglich ist, Geld abzuheben! Haben die Leute keine Kohle, können sie nichts kaufen, läuft die Wirtschaft nicht, ist Feierabend!!!
Mal schnell noch Geld abheben, wenn die Automaten gefüllt sind???? HAHAHAHA, selten so gelacht!!!! Erstmal heißt es anstellen an der Schlange vor der Bank, um an die benötigten Kröten zu kommen! Ne viertel Stunde ist da nichts!
OK, wenn man dann einmal an der Reihe ist, hebe man doch gleich mehr ab, um dieses Schicksal so selten wie möglich zu erleiden, oder? DENKSTE! Maximal 2400 Pesos bekommt man pro „Ziehung“, was circa 150 EUR sind und zu zweit nicht wirklich eine ausdauernde Liquidität verspricht… „Dann zieh doch zweimal Geld!“ – Kann man machen, kostet aber immer mindestens schlappe 5,50 EUR, und da sind sich alle argentinischen Banken irgendwie absolut einig. Wir empfinden das als große Frechheit, zumal das vor allem ausländische Reisende betrifft, die mit ihren Ausgaben im Land auch für so einigen Umsatz sorgen! Nur verlieren wir langsam echt die Lust durch solche Gegebenheiten, Geld in diesem Land auszugeben, welches über das Notwendigste hinausgeht.
Das Fass zum Überlaufen bringt dann tatsächlich die Provinz Catamarca, in der es für Ausländer unmöglich ist, an Geld zu kommen, egal an welchen Automaten man geht! Echt ein sch… Gefühl, ohne Kohle dazustehen und zu wissen, dass sich daran auch in den nächsten beiden Tagen nichts ändern wird!!! Nur mit der Leihgabe von Campbell und einfallsloser Kulinarik kamen wir über die Runden…
Challenge drei: „Überleben“ während der Zeit von 13-18 Uhr
Was man aus den europäischen Mittelmeerstaaten kennt, wird auch hier von nahezu jedem Individuum konsequent und nahezu in Perfektion vollzogen – SIESTA! Dumm nur, wenn man auf einer 90 km – Etappe durch die argentinische Pampa genau an nur einem Dorf um die Mittagszeit vorbeikommt, in dem man seine Grundbedürfnisse nach Nahrungsmitteln befriedigt wissen will. Wirklich jede Bude hat die Türen verrammelt, keine Chance! Also heißt die logistische Devise: „Besorge deinen Stuff morgens und schleppe das Zeug gefälligst auf der ganzen Strecke mit!“ Ok, dann hat man eben ein gutes Training!!!!
Challenge vier: Finde Ruhe in der Nacht, um auch morgen noch kraftvoll reintreten zu können.
Wer von 13-18 Uhr Siesta feiert (und bei dieser Hitze hier kann man das definitiv nachvollziehen), spart natürlich genügend Energie, um anschließend bis mindestens drei Uhr morgens das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und so geht abends das Leben erst richtig los. Alle Zwei- und Vierbeiner tummeln sich fröhlich an allen erdenklichen Orten, seien sie auch noch so abgelegen. Laute Musik, dröhnendes Gequatsche, schrillendes Kläffen und allerlei andere Geräusche bilden so ein Konzert akustischen „Terrors“ für den platten, schlafhungrigen Radler, dem es die Windverhältnisse in Argentinien verbieten, mittags Siesta zu feiern. Spätestens nach drei Radeltagen ohne eine einzige vernüftige Schlafphase ist man dann doch ganz schön angepi… und entwickelt den einen oder anderen unschönen Gedanken… !
Challenge fünf: Trotze den Wetterverhältnissen, die du glaubtest, hinter dir gelassen zu haben oder gar nicht mehr kanntest
Start morgens 8:30 Uhr in Belen: Was mit ein paar Tropfen von oben auf dem vergebens eingeschlagenen Weg zum örtlichen Kreditinstituts ob akuter Liquiditätsprobleme begann, entwickelte sich pünktlich zum Start in den Radtag zu einem ergiebigen Regen. Natürlich reicht das nicht. Der Blick zum Himmel zeigt kein gewöhnliches Grau, sondern ein komisches Orange/Braun/WASAUCHIMMER… Während man sich noch fragt, wo sich denn die Lichtquelle befindet, die für solche farbliche Impressionen sorgt, und mit halboffenem Mund durch den strömenden Regen radelt, merkt man spätestens beim Schließen des Mundes, dass die Ursache der Farbe am Himmel der Sand ist, mit sich der Regen vermischt hat. Wer braucht da noch Zahncreme!!! Nach einer Stunde ist der Spuk dann vorbei. Rad und Fahrer sehen aus wie die Schweine! Der Starke Wind sorgt dann dafür, dass die sandige Patina ein wenig von Leib und Gefährt geblasen wird – sehen wir es als Training für Patagonien!!!
Ja, der Wind, unser stetiger Begleiter!!! Überall liest man, dass es ratsam sei, von Nord nach Süd zu fahren, weil man quasi ständig Rückenwind hätte… Also irgendwo muss das Jahr 2016 diesbezüglich eine Ausnahme bilden!!! (um fair zu sein: ja, auch wir hatten manchmal Rückenwind – aber von überwiegend kann hier in keinster Weise die Rede sein…)
Auch wenn einem bei der Wärme hier an Ruhetagen durchaus warm ums Herz werden kann, so bildet sie doch während des Pedalierens einen nervigen Stressfaktor, den wir in den Anden selten erleben mussten. Hach, was waren das für Zeiten, als man noch am Anstieg mit zwölfprozentiger Steigung ins Frieren gekommen ist!!!! Nun reagiert der Körper klassisch, öffnet jede Pore und kredenzt einem so ein Gemisch aus Schweiß, Sonnencreme und Dreck, bei dem jedes Peeling überflüssig wird und man sich abends beim Zelten ohne Dusche schon aufs Schlafen freut. (Wenn man es denn könnte!!!) Sand, den der abendliche Sturm für gewöhnlich direkt ins Innere des Zeltes trägt, dient damit wunderbar als Bindemittel eines solchen Gemisches. Morgens einmal kurz schütteln, und schon kann der Spaß von Neuem beginnen – das Leben kann so einfach sein!
Challenge sechs: Der Geister Herr werden, die zu früherer Zeit gerufen worden sind
Entspannter Start gegen 11 Uhr morgens vom Hippizeltplatz in Salicas – Urlaubsfeeling pur, weil erst gegen 8:30 Uhr aus den Federn gekrochen und am Vortag doch tatsächlich wieder Geld m Automaten ziehen können und schuldenfrei durchs Leben radeln! PERFEKT! Zwanzig Minuten später macht es „Kling“, aber es war nicht die Kohle in der Geldbörse!!!! NEIN! Es war …. Trommelwirbel …. eine gebrochene Speiche des Hinterrades von Mister Mutton, die das Geräusch verursachte!!!! Da jagdste den Hobel tausende Kilometer über Stock und Stein, um dann auf aalglattem Asphalt ein solches Schicksal zu erleiden!!!! Hört das denn nie auf??? Der Blick auf das rotierende Hinterrad macht schnell klar, dass da ne neue Speiche rein muss. Kein Problem, hab doch alles dabei… . Erledigt??? Natürlich nicht! Es handelte sich um eine Speiche auf der Antriebsseite. Will man die wechseln, muss man die Kassette lösen… Tja, GENAU DAS notwendige Tool habe ich nicht dabei! Warum auch? War die Komponentenauswahl ja grundsätzlich nicht die Schlechteste!!!
Der Blick auf die Karte verrät, dass auf den nächsten 110 Kilometern keine Fahrradwerkstatt zu erwarten ist… Tolle Wurst! Die benachbarten Speichen sind bedenklich locker, sodass ich mich notgedrungen dazu entschließe, deren Spannung auf Kosten der Zentrierung (die eh nicht mehr gegeben war) zu erhöhen, um Folgebrüche zu vermeiden… Beim Anblick des eiernden Hinterrades und dem Bewusstsein, nicht wenig Last mitzuführen, wird mir immer unwohler, aber was willste machen!!! Hier in Chilecito findet sich bei der Einfahrt in den Ort nach 70 km Tagesleistung um die Mittagszeit (partiellem Rückenwind sei Dank!) ein kleiner Radshop, dessen Besitzer sich kurz vor der Siesta kurz und schmerzlos meines Hinterrades annimmt. Er wollte nicht mal Geld dafür, was wir aber so nicht akzeptierten konnten. Echt freundlich, die Menschen hier!!! Und unkompliziert – das fällt immer wieder auf! Vielleicht liegt es auch an der langen, entschleunigenden Mittagspause?! Kreuzen wir die Finger und klopfen auf den Holzkopf, dass nun Ruhe ins Hinterrad einkehrt!
Man komme bitte nicht auf den abwegigen Gedanken, diese Pannen- und Defektserie hänge in irgendeiner Weise mit der Kompetenzkomposition des Muttonman zusammen… 😉
An den Gedanken, die Tour könnte nach dem bisher Erlebten langweilig werden, brauchen wir uns also gar nicht gewöhnen :-)! Jeden Tag eine Herausforderung?! Was soll der Geiz, es dürfen ruhig mehr sein! Man wächst ja bekanntlich an seinen Aufgaben;-).
Es trennen uns jetzt noch 574 Kilometer von Mendoza! Damit verbunden ist die Zusatz-Challenge – Zeit totschlagen, um nicht zu zeitig dort anzukommen… Klingt einfach? Kann aber auch ganz schön herausfordernd sein! 🙂 Für’s Erste hängen wir einfach noch einen weiteren Ruhetag in Chilecito ran – bei 38 Grad im Schatten wäre radeln sowieso zu herausfordernd, oder? 😉
Es grüßen schwitzend entspannt ab- und herumhängend die Muttons!
Kommentar verfassen